"Ein Toter fährt gern Ringelspiel"
Rezension von Marcel Tilger
Es wird dem Gros der Leser nicht schwer fallen, ANGIZIA als völlig verrücktes Kollektiv abzutun - sollte es ihnen überhaupt vergönnt werden, deren neues Werk zu Gehör zu bekommen. ANGIZIA selbst nähren weder das eine noch andere ganz bewusst; sie sind einerseits lange Zeit vergebens mit ihrem mindestens ebenso avantgardistischen letzten Tonträger "39 Jahre für den Leierkastenmann" bei potentiellen Verlagen vorstellig geworden und haben auf der anderen Seite stets nur gesucht, ihre innersten Bewegungen und Ansichten abzubilden. Wem die denn zu schräg und außerordentlich tönen, nun gut ... Michael Haas, der "Ein Toter fährt gern Ringelspiel" mit gleichermaßen verstörenden wie betörenden Zeile ("...Ein Toter will leibhaftig sein und gibt partout nicht Ruhe...") einleitet, schert das - im Gegensatz zu jenen, die zwar betonen, sich niemandem anzubiedern, schließlich aber doch mit eingezogenen Schwänzen unter die Fittiche jeder x-beliebigen Plattenfirma zurückgekrochen kommen - tatsächlich nicht mehr. Ihm gebühr dafür, dieses nach entbehrungsreichen drei Jahren nun vorliegende Mammutprojekt selbst realisiert, produziert, finanziert, verlegt und vertrieben zu haben, der höchste Respekt - und die Freiheit, wirklich das ausleben zu können, was ihn umtreibt. Er ist ein Klangforscher, ein Maler, ein Erzähler, ein Schauspieler, ein Querdenker, ein Perfektionist, der die Grenzen, die ihm die Metal-Schule einst zog, zuerst missachtete, sie später schlichtweg sprengte. Nicht nur, dass "Ein Toter fährt gern Ringelspiel" das Flair des über alle Maßen grandiosen "39 Jahre für den Leierkastenmann"-Werks weiterspinnt, die Schrulligkeit aufgreift - es treibt das Spiel mit allerlei obskuren Elementen auf die Spitze, potenziert so ziemlich alles, was ANGIZIA bisher kennzeichnete. Die Stimmen (neben Haas rezitieren, weinen, schreien, singen Jochen Stock, Irene Denner und Rainer Guggenberger) vermag man mit den Attributen bizarr, intensiv, kapriziös kaum mehr zu treffen; eine selbst für den virtuosen Arrangeur Haas überbordende Fülle von winzigen Details stülpt dem Hörer das morbide Szenario Königsbergs von 1947 förmlich über. Dort droht unser Protagonist gerade verscharrt zu werden. Doch der will seinen Tod nicht wahr haben, will zurück, als Toter durch die Welt tanzen. Memento mori. Den Spannungsbogen, sich über Klezmer, Jazz, Operette und, ja, Rock erstreckend, dieser Welt aber bauen ANGIZIA keineswegs behutsam auf, sondern mit der Wucht eines ausbrechenden Vulkans. Musikalisch wie dramaturgisch gehen sie dabei grandios vor: forsch, fordernd, widerborstig, makaber, mannigfaltig. Sie schaffen dadurch ein beinahe unwirkliches Artefakt, wundervoll gestaltet, mit viel Herzblut umgesetzt. Kurzum: Eine eindrucksvolle Musik, die in selbstverliebter Borniertheit oft nicht wahrgenommen werden wird. Damit indes kann der Rezensent, genüsslich schmunzelnd und schunkelnd, gut und gerne leben.
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