biografie
„Es bedarf sicherlich eines gewissen musikalischen Horizonts, um jede
Facette dieser, ja, Offenbarung, würdigen und genießen zu können,
dann aber ist es Belohnung, ja pures Vergnügen“, wusste Cornelius
Courts über das eigenwillige, ja nonkonformistische Musiktheaterprojekt
ANGIZIA zu sagen. Es sind wohl die besondere Theatralität oder der
unverkennbare musikalische Wahnwitz, ja schlichtweg skurrile auditive Begegnungen,
die den österreichischen „Aus-der-Reihe-Tanzer“ Angizia
bei vielen Musikenthusiasten aus aller Welt zum absoluten „Must have“
ihrer persönlichen CD-Sammlung gemacht haben. Angizias Musik begegnet
einem wie der widerborstige und starrköpfige Feind des kommerziellen
Musikgedankens – jedes Album ist Teil einer eigenen Schublade, frönt
unglaublichem Idealismus und verhöhnt gleichzeitig jene vulgäre
Gesetzmäßigkeit, mit der sich Plattenfirmen von heute das wirtschaftliche
Plagiatdenken ihrer gleichförmigen Bands schönreden. Über
fast 10 Jahre ihrer Daseins entwickelte sich Angizia zu einer der unwirtschaftlichsten,
idealistischsten aber unverkennbarsten Musikexistenzen dieser Zeit. Gegen
die Masse und für ein äußerst erlesenes und enthusiastisches
Publikum.
Alles begann im Winter 1994, als der damals 18-jährige Michael Haas
(aka Engelke) zunächst als Zeichen einer schier ichbezogenen Ausdrucksmöglichkeit
das Musikprojekt „Angizia“ ins Leben rief. Erste Projekttitel
bewährten sich zunächst als wichtiges Fundament naturbezogener
Lyrik, auch wenn das damit bediente musikalische Medium noch ein ganz
anderes war, als das was Angizia heute darstellt und ausmacht. Zusammen
mit dem Pianisten Cedric Müller und dem Gitarristen Emmerich Haimer
entwickelte Michael Haas im März 1995 das nie veröffentlichte
„Nordheim“-Demo, eine persönliche wie inoffizielle Schöpfung
ehrgeiziger Musikanten, deren Ideen Angizia später in Konzepte wie
„Kissarna“ (Demo 1995), „Heidebilder“ (Split-CD
mit Amestigon) oder „Das Tagebuch der Hanna Anikin“ (CD 1997)
integrierte. In dieser Zeit entwickelten Michael Haas und Cedric Müller
eine intensive musikalische Freundschaft, die auch Ausdruck der späteren
Alben „Die Kemenaten scharlachroter Lichter“ (CD 1997) und
„Das Tagebuch der Hanna Anikin“ (CD 1997) war. Müller,
zu dieser Zeit gerade 16 Jahre alt, besuchte schon als Jugendlicher das
Konservatorium der Stadt Wien, absolvierte als klassisches Wunderkind
Österreichs zahlreiche Klavierkonzerte im Inland wie im Ausland und
brillierte als pianistischer Genius im heimischen Fernsehen. Auf seinem
kostbaren Flügel entstand das Angizia-Fundament, die Leihgabe eines
Instruments, das in Angizia auf unbestimmte Zeit eine dominante Rolle
spielen wird. Man entschied zunächst, Klavier dominante Musikstücke
zu schreiben, die ausschließlich für sich selbst sprechen sollten.
Moderne und eigenwillige Stücke wollte man vertonen, das avantgardistische
Musiktheater immer im Hinterkopf.
Im November 1995 veröffentlichte Angizia ein auf 200 Stück
limitiertes Demo („Kissarna“), das wichtige musikalische Rohdiamanten
der „Tagebuch-Ära“ beinhaltete und im breiten Underground
für frenetische Fürsprache sorgte. Für die Musik zeichneten
damals Cedric Müller, Emmerich Haimer und Jürgen Prokesch, der
später auch Bass bei „Das Tagebuch der Hanna Anikin“
und „Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias“ spielte.
Nach freundschaftlicher wie geschäftlicher Übereinkunft mit
Napalm Records konzipierte Angizia im Frühjahr 1996 drei Stücke
für eine Split-CD (mit Amestigon), deren Musikgehalt ob der damals
gewagten Kombination von Klassik und Metal als Vorreiter für später
„erfolgreiche“ Bands im selben Metier galt und leidenschaftliche
wie auch kontroverse Meinungen hervorrief.
Angizia entwickelte sich zum schrägen Ensemble in einer verruchten
musikalischen Moderne und rückte das Klavier mehr und mehr in den
gesuchten theatralischen Vordergrund. Aus leidenschaftlichen Strophen
entwickelten sich aufwändige Dialoge. „Die Eleganz und Brillanz
der ausdrucksvollen, zwar teils massiv chiffrierten, in ihrer Symbolkraft
jedoch nichtsdestotrotz mitreißenden Verse fügt sich weich
und angenehm in das Klangbild der Musik. Ein ständig gegenwärtiges,
virtuos beherrschtes Klavier, Flöten, Streicher, Sopranistinnen und
ein Tenor, aber auch verzerrte Gitarren, ein heftiges Schlagzeug und ein
"scream-style"-Sänger in bester Black Metal Manier inszenieren
eine Klangschöpfung, welche ebenso neu, unverbraucht und innovativ
ist, wie die Musik Mozarts zu seiner Zeit.“ (Cornelius Courts, 1996)
Ein aufwändiges Jahr lang arbeiteten Michael Haas und Cedric Müller
an der so pathetischen Debüt-CD „Die Kemenaten scharlachroter
Lichter“, einem Werk, das Angizia aus allen musikalischen Schubladen
sperrte und womöglich eines der meist diskutierten Alben im Metal
Genre blieb. Die Geschichte rund um den trübseligen Hofdichter Konstanz
Bürster, der für seinen Lebensabend eine Kemenate bezog, um
dort sein Leben zu notieren, setzte Michael Haas ins schwülstige
Barockzeitalter, eine Epoche, die Cedric Müller auch in seiner Tondichtung
bedachte. „Die Kemenaten scharlachroter Lichter“ begegnete
dem Hörer als vertontes Theaterstück mit überlangen Abschnitten
und einem pompös-barocken Libretto, das erstmals auch die Sopranistin
Irene Denner sowie den Tenor Friedrich Rieder in das Kollektiv integrierte.
Michael Haas entschied sich gegen die Konvention, die gesangliche Lyrik
im Booklet abzulichten und ließ stattdessen das gesamte Monodrama
(5 Akte) in Wort und Schrift publizieren. „Die Kemenaten scharlachroter
Lichter“ erreichte Höchstnoten in deutschen, russischen, griechischen
und italienischen Gazetten, führte jedoch geradewegs zu witziger
Verlegenheit manch kühner Rezensenten, die oft nur Floskeln in ihre
Magazine schrieben und mehr oder minder zugaben, mit Angizia überfordert
zu sein. Das so ungewöhnliche Ensemble manifestierte sich mehr und
mehr in einer schmucken Seitengasse des musikalischen Undergrounds und
wurde von einem zunehmend er- und belesenen Publikum wie edler und eitler
Wein in bis dahin leeren Schubladen gelagert. Cornelius Courts schrieb
in seiner Rezension: „Hier liegt eine musikalische Schöpfung
der Meisterklasse vor, ein Werk, das sich aller profanen Kategorisierbarkeit
entzieht, das einfach wirkt. Diese Musik passt so recht in keine Schublade,
außer derjenigen, welche die Aufschrift "genial" trägt.“
Plattenfirmen und musikalische Vertriebe zeigen sich seither erschöpft,
Angizia richtig einzuordnen und ringen um Attribute, die - aus metallischen
Zusammenhängen gerissen - für Angizia nicht zutreffend sind.
Das österreichische Nonkonformistengeschöpf entwickelte sich
zum großen Rätsel der Musikindustrie und existiert seitdem
für sein erlesenes Publikum als unkonventionelles episch-musikalisches
Paradigma für Bizarrerie, Komik, Theatralik und Avantgarde.
Im Frühjahr 1997 komplettierte Michael Haas die Novelle „Das
Tagebuch der Hanna Anikin“, die er als epische Grundlage für
das zweite Angizia-full-length-Album und den Beginn einer russisch-orientierten
Trilogie verstand und schon während der Studioaufnahmen zu „Die
Kemenaten scharlachroter Lichter“ gemeinsam mit Cedric Müller
musikalisch bearbeitete. Man einigte sich auf die Umsetzung von Tagebuchniederschriften
des fingierten finnisch-russischen Bettlerkindes Hanna Anikin, die auch
gleichzeitig als ichbezogene Hauptfigur der Geschichte agierte. Die Tondichtung
war schwermütig und sollte Michael Haas’ Epik erstmals modern
und gelassen interpretieren. Er engagierte die Tiroler Gesangskoryphäe
Christof Niederwieser als charismatischen Solisten für die vokale
Trinität „Denner-Haas-Niederwieser“. Irene Denner brillierte
erstmals als Angizia-Solistin und imponierte der Musikpresse mit „musical-lines“
(abseits der bornierten Gothic-Metal-Schiene), die als dramatisches Pedant
zu Michael Haas und Christof Niederwieser gedacht waren. Cedric Müllers
Klavierspiel entwich den pompösen Strukturen der „Kemenaten“-Ära
und glänzte in einem musikalischen Allerlei an Posaunen, Flöten,
Akustikgitarren, E-Gitarren, Schlagzeug und schrägen Gesangsstrukturen.
Erstmals kooperierte Angizia mit der malenden Künstlerin Gabriele
Böck, die mit ihrem Bild „Weg zum Flug“ eine ästhetische
wie metaphorische Interpretation zu „Die Fieberschauer eines betrunknen
schwarzen Schmetterlings“ schuf.
Nach der Veröffentlichung von „Das Tagebuch der Hanna Anikin“
im Sommer 1997 beendeten Michael Haas und Cedric Müller nach kleinen
und größeren Auseinandersetzungen ihre so glorreiche Zusammenarbeit
und schockten damit zunächst das Angizia-Publikum. Man munkelte,
dass „Genie und Wahnsinn“ zu nahe beieinander lagen und der
so extrovertierte Cedric Müller seinen Klavierflügel nicht mehr
als Medium seiner künstlerischen Arbeit verstand. Michael Haas änderte
abermals sein Kollektiv und engagierte neue Musiker, um ein weiteres Ziel
für die musikalische Umsetzung seiner Romanvorlage „Das Schachbrett
des Trommelbuben Zacharias“ zu erreichen. Er involvierte erstmals
den Geigenvirtuosen Roland Bentz als Gastmusikanten sowie den Akkordeonisten
Florian Oberlechner für „Der Essayist“. Michael Haas
begann zudem eine intensive kompositorische Zusammenarbeit mit Emmerich
Haimer, der bislang ausschließlich als Gitarrist fungierte und sich
nunmehr gemeinsam mit Michael Haas auch der Tondichtung für „Das
Schachbrett des Trommelbuben Zacharias“ annahm. Es entstand ein
harmonisches, wohl klingendes und einträchtiges Geflecht aus tragischen
Elementen und launig-humoristischen Rhythmen, die der Schöpfung Angizia
fortan ein unerreicht nonchalantes Gesicht verliehen. „Gerade auch
bei der näheren Betrachtung von „Das Schachbrett des Trommelbuben
Zacharias“ stößt man final doch an jenen Punkt, an welchem
Gesprochenes sich selbst relativiert und die Musik als Kommunikationsform
ihre eigenen Gesetze geltend macht. Jenseits dieses Grenzbereichs führen
ANGIZIA nun ihre, mit „Das Tagebuch der Hanna Anikin“ begonnene
Russlandtrilogie fort und präsentieren sich damit auch insgesamt
gesehen auf dem Höhepunkt ihres bisherigen Schaffens. Die Mannigfaltigkeit
der Stränge, welche in ANGIZIA zusammenlaufen, wird noch dichter
verwoben, das Dargebotene lebt in seiner verspielten Natürlichkeit
noch stärker auf, was selbstverständlich auf die hervorragenden
Musiker und Komponisten zurückgeführt werden muss, und wird
gerade durch den wiederholten Einbezug von Geigen, Klavier, Akkordeon,
Violoncello etc. veredelt.“ (Florian Zastrau, 1999)
Die Zusammenarbeit zwischen Michael Haas und Emmerich Haimer brachte
die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit mit sich, Epik und Tondichtung
noch einmütiger miteinander zu verschmelzen als bislang der Fall
gewesen und verblüffte die Angizia-Fangemeinde mit dem bis dato meist
geschätzten Resultat: „Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias“.
Michael Haas integrierte den Schlagzeuger Moritz Neuner (KOROVA, DORNENREICH)
und seinen Freund Jochen Stock (DORNENREICH) zunächst als klassischen
Gitarristen in ein mehr und mehr schräg aufstrebendes Kollektiv bunter
Zeitgenossen, die rege und epikbedachte Arbeit gewährleisteten. In
„Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias“ (1999) erzählt
Michael Haas die Geschichte zweier Schachspieler, die sich in alles entscheidenden
Duellen in poverer wie inhumaner Weile die Frage nach dem Sinn des in
Russland gefertigten System-Lebens stellen. Zacharias als anmutiger Trommelbub
der ukrainischen Armee löst sich von seiner Trommel und beschließt,
das renommierte Schacherbe seines Vaters anzutreten, der im Begriff war,
ein Schema zu entwickeln, das die russische Gesellschaftsstruktur kritisierte
und im Gegenzug ein schlichtes Brettspiel vergesellschaftete. „Das
Schachbrett des Trommelbuben Zacharias“ wurde zum avantgardistischen
Mahnmal der Angizia-Kultur, offerierte 8 prorussische Musiktheater-Hymnen
und demonstrierte erneut jen typische musikalische Modifikation, die Michael
Haas mit Angizia von Album zu Album zu erzielen gedachte. Julian Schönberg
agierte als zeitloser Pianist und die so sehr charismatischen Arrangements
begegnete dem Hörer als anrüchiges theatralisches Manifest einer
schier unsterblichen Formation. Zeitlose Epik wurde zeitlos in ihre Komposition
getragen.
Irene Denner glänzte erneut mit ihrer charismatischen weiblichen
Stimme, Michael Haas agierte als theatralisches „infant terrible“
und gab als dreister Solist dem Angizia-Gesangs-Duett einen neuen Namen.
Christof Niederwieser begeisterte abseits der Solisten Michael Haas und
Irene Denner mit erbitterter Interpretation, schied jedoch nach modifizierten
Angizia-Konzepten 1998 aus dem Kollektiv. Inszeniert als harmonisches
Gleichgewicht zwischen Epik und Lyrik fertigte die malende Künstlerin
Gabriele Böck sämtliche Bilder zur gleichnamigen Geschichte
und interpretierte damit mit sensibler Hand den inneren Monolog des Protagonisten
Zacharias Kasakow, der das Spiel seines Lebens gewinnt, um sein eigenes
Leben aufrichtig zu bewerten. In Hunderten von Stunden erstanden Michael
Haas und Emmerich Haimer eine per „Cakewalk“ und Klavier erdachte
Komposition, die Angizia ermöglichte, neue Pfade der Musikindustrie
zu beschreiten und dennoch ein Gegenstück zur nun abgeschlossenen
Napalm/Records-Ära zu entwickeln. Es entstand die von Napalm/Records
befürchtete Kluft zwischen hellauf begeisterten Musikkonsumenten,
die Angizia als schräges Ensemble vom Lärm der Masse unterschieden,
und flüchtigen, einfältigen Hörern auf der anderen Seite,
die von Angizia bewusst enerviert wurden. Spätestens jetzt bewegte
sich Angizia kühn und uferlos als ästhetischer Einbaum im Meer
der Musikindustrie, weit, weit entfert von diesen vielen gestrandeten
Booten, die sich wie missmutige Lakaien um die Insel des geldbringenden
Königs der Musikindustrie tummelten. Es war nicht ausschließlich
Metal, kein Rock, keine konventionelle Oper, kein Kurt Weill-Stück,
kein modernes Musical und auch kein patriotisches russisches Singspiel
in 8 Akten – sondern von alldem ein bisschen und noch viel mehr.
Es war Angizia. Punkt.
Noch bevor „Das Schachbrett des Trommelbuben Zacharias“ über
Black Rose Productions (Februar 1999) veröffentlicht wurde, schrieb
Michael Haas an seinem projüdischen Weltverbesserungsstück „39
Jahre für den Leierkastenmann“, das dem Angizia-Hörer
im Herbst 2001 als eigenwilliges Gesamtwerk in 3 Akten und 18 Kapiteln
begegnete. Abseits irgendwelcher Grenzen und Richtlinien, wohl aber auch
ungemein trotzköpfig fertigten Michael Haas und Emmerich Haimer effizient
kurze und längere Stücke für das bislang intensivste, wahnwitzigste
und schiefste Angizia-Album. „39 Jahre für den Leierkastenmann“
schildert die tragische Geschichte von vier jüdischen Musikanten,
die ihre Heimatstadt Lemberg verlassen, um gemeinsam mit Bettlern und
Armen der Komik zu frönen und fidel und munter das kalte Russland
mit jovialer Zirkusmusik und bockiger Freude an dieser leidigen Zeit zu
bereichern. Für das bislang nachdrücklichste Angizia-Werk wechselte
Michael Haas Angizias Produktionsstandort und gedachte einer befleißigten
Zusammenarbeit mit Violinist Roland Bentz, der neben virtuosem Geigenspiel
für dieses Album auch die bedeutende Arbeit des Produzenten einnahm.
Fast ein Jahr lang arbeitete Angizia im „Klangwerk-Studio“
Steinbach an „39 Jahre für den Leierkastenmann“, ein
unkonventionell überliefertes Musiktheaterstück, das vielfältig
und gezielt alle Facetten des avantgardistischen Musiktheaters präsentierte.
Wieder einmal mussten Künstler gefunden werden, deren Profil für
dieses Werk geeignet schien. Der Jazz-Schlagzeuger Alex Dostal ersetzte
den freundschaftlich verabschiedeten Moritz Neuner, der auf Grund vieler
Tourneen mit anderen Bands und mit Hinblick auf die weite Distanz zwischen
Innsbruck und der Angizia-Heimat weichen musste. Mario Nentwich übernahm
die Arbeit des tollkühnen Pianisten. Jochen Stock spielte Bass für
den ersten Studioabschnitt und fungierte als dramatisches Rezitativ und
Jazz-Bassist Harald Hauser übernahm das Bass-Spiel im Mai 2001. Der
einstige polnische Straßenmusiker Krzysztof Dobrek beeindruckte
mit wahnwitzigem Akkordeonspiel, Roland Bentz begeisterte als Geigenvirtuose,
Bernhard Seibt glänzte als famos-tragischer Zirkusklarinettist und
Bass-Sänger Rainer Guggenberger vervollkommnte das Gesangsduett von
Michael Haas und Irene Denner, das mit wahnwitzigem Temperament vor allem
die Koinzidenz von Tragik und Komik dieser so ungewöhnlichen Geschichte
zum schrägen Ausdruck brachte. Einmal mehr verliebte sich Angizia
in exzentrische Instrumente und integrierte neben Violine (Roland Bentz),
Akkordeon (Krzysztof Dobrek) und Klarinette auch Tuba, Posaune, Tamburin,
Triangel und Große Trommel in die teils von Spiel- und Zirkusmusik
und teils von Tragik und Leid besetzen Strukturen.
Der Berliner Musikjournalist Thomas Sabottka schrieb damals in seiner
Rezension für ein Internetmagazin: „Erzählt wird diese
Geschichte ausschließlich mit Hilfe von Musik. Von Musik, die hauptsächlich
mit Hilfe von Piano, Akkordeon, Klarinette und diversen Streichern interpretiert
wird. Nur gelegentlich durchbrochen von Gitarren, Schlagzeug und Bass.
Musik, die wehmütig in der Tradition jiddischer Lieder aber, auch
immer wieder in wilde polkahafte, beschwingte an den Wahnsinn grenzende
Tänze gipfelt. Einer Verrücktheit, die in der faszinierenden
Stimme des Sängers gipfelt, dem man die konsequente Leidenschaft
der Figur, mit der sie sich über das Leid der Zeit hinwegsetzt mit
jeder gesungenen Note abnimmt. Die möglichen Bilder dieser an Gaukler
und Komödianten erinnernden Theateraufführung müssen sich
im Kopf des Hörers bilden, denn auf gesprochene Zwischentexte wird
ebenso verzichtet, wie auf sinnlose, instrumentale Zwischenspiele. Das
Ganze funktioniert genauso wie man sich die Geschichte vorstellt. Als
würde eben jener Leierkastenmann, mit seinem Instrument auf einem
Jahrmarkt stehen, wo man im Vorrübergehen plötzlich von seinen
Klängen, seiner Stimme aufgehalten und gefangen wird. Stehen bleibt,
verharrt und mit vor Staunen aufgerissenen Augen seinen Gesängen
lauscht.“
Gabriele Böck schuf Dutzende gentile Bilder als ästhetische
wie komisch-tragische Interpretation dieser Geschichte und deutete an,
was Michael Haas mit Angizia folgen lassen wird. Böcks burlesk-ästhetisches
Schaffen gewährte dem epischen wie auch dem musikalischen Opus Angizias
ein neues Stilleben. Zudem verdeutlichte Angizia mit der ureigenen Illustration
seiner Werke und Themen wie wichtig und unumgänglich die künstlerische
Trinität aus Epik, Musik und Malerei für das Angizia-Gesamtwerk
ist. Ein Gesamtwerk, in dem Angizia auch beurteilt werden will. Das Angizia-Triebwerk
arbeitete unaufhaltsam weiter, auch wenn man sich mittlerweile bewusst
von Plattenfirmen, Intentionen und Richtlinien der Musikindustrie distanziert
hat (schon „39 Jahre für den Leierkastenmann“ erschien
auf dem eigenen Label „Medium Theater“), um ausschließlich
jene Kunst zu betreiben, die selbstgewollt und nicht fremdgelenkt ist.
Im Sommer 2001 entschied Michael Haas, seine Faszination an der Morbidität
toter Seelen und bizarrer Themen in einem grotesken und überaus kostspieligen
Fortsetzungsstück zu verarbeiten. Er nannte es, „sein entrisches
Friedhofsstück“ und begann zunächst lose Szenen zu entwickeln,
die er nach und nach in die kauzige Szenerie einer skurrilen Nekropole,
dem Totenacker des Königsberger Friedhofs, drängte. Er wollte
zeigen, was der Tod aus seiner letzten Hauptfigur Elias Hohlberg gemacht
hat und verwandelte den einst aufgekratzten jüdischen Spielmann in
ein leidiges, aber starrköpfiges Gerippe, das nebst schwarzen und
weißen Puppen, schnöden Leichen und fahrigen Ringelspielpferdchen
das bizarre Leben in dieser russischen Totenstadt vorantreibt. Schon bald
arbeiteten Michael Haas und Emmerich Haimer an der anspruchsvollen, weil
sehr zielgerichteten Komposition des 5. und vielleicht sogar letzten Angizia-Stücks,
das erst den Arbeitstitel „Heute sind die Toten rührig“
trug und im Dezember 2004 unter dem Albumtitel „Ein Toter fährt
gern Ringelspiel“ veröffentlicht wurde.
Erste Aufnahmen folgten im April 2003, zunächst in Jochen Stocks
HoriSon-Studio in Hall in Tirol, wo Michael Haas und Jochen Stock die
Versatzstücke „Macht die Säge siege-sage“ sowie
„Hoppa Hoppa Reiter“ fertigten und sodann erste Gesangsaufnahmen
für die Stücke „Schaukelkind“ und „Mein Gaul,
mein Gaul verreckt im Dreck“ absolvierten. Im Klangwerk-Studio von
Roland Bentz wurde diesmal nur ein kleines Fundament, sprich die Kapitel
„Schaukelkind“, „Das Gerippe geht dem Ausgang zu“,
„Ein Toter fährt gern Ringelspiel“ sowie „Mein
Gaul, mein Gaul verreckt im Dreck“, aufgenommen. Unzählige
Niederschriften, musikalische Skizzen und essayistische Ausführungen
trieben nun die bizarre Klangwelt von „Ein Toter fährt gern
Ringelspiel“ voran und ließen das so sehr morbide Projekt
in einem üppigen zweieinhalbjährigen Kompositionsprozess zu
einem fast 90-minütigen Konglomerat aus schräg-theatralischer
Avantgarde, klezmerisierter Zirkusmusik“, musiktheatralischer Innovation,
bitterer Dramatik, moderner Strukturen und skurrilen, ja überirdischen
Figuren werden. Über viele Monate hinweg entwickelte Angizia mittels
strotzender Kompositions- und Aufnahmesessions in unterschiedlichen Studios
die so sehr unbefangene, intime Stimmung eines „entrischen Friedhofsstücks“,
das sich durch und durch einer einschlägig bizarren Welt annahm.
Im März 2004 entschieden Michael Haas und Irene Denner, die Hörspiel
orientierten Abschnitte des „Ein Toter fährt gern Ringelspiel“-Konzeptes
„live“ in einem großen Aufnahmesaal samt Steinway-Flügel
und zwei Gesangsmikrofonen im 4tune-Studio Wien aufzunehmen und den Großteil
der 24 Versatzstücke ihres 5. Albums bei Natursoundapologeten Bernhard
Gittenberger im Recordable Studio Stockerau. In einer Phase, da die Projektidee
selbst ihren finanziellen Rahmen sprengte und Michael Haas einige Umstrukturierungen
im Angizia-Kollektiv vornahm, entstanden die wohl eindringlichsten Angizia-Aufnahmen
aller Zeiten.
„Nicht nur, dass EIN TOTER FÄHRT GERN RINGELSPIEL das Flair
des über alle Maßen grandiosen 39 JAHRE FÜR DEN LEIERKASTENMANN-Werks
weiterspinnt, ja die Schrulligkeit aufgreift - es treibt das Spiel mit
allerlei obskuren Elementen auf die Spitze, potenziert so ziemlich alles,
was ANGIZIA bisher kennzeichnete. Die Stimmen (neben Michael Haas rezitieren,
weinen, schreien, singen Jochen Stock, Irene Denner und Rainer Guggenberger)
vermag man mit den Attributen bizarr, intensiv, kapriziös kaum mehr
zu treffen; eine selbst für den virtuosen Arrangeur Haas überbordende
Fülle von winzigen Details stülpt dem Hörer das morbide
Szenario Königsbergs von 1947 förmlich über. Dort droht
unser Protagonist gerade verscharrt zu werden. Doch der will seinen Tod
nicht wahr haben, will zurück, als Toter durch die Welt tanzen. Memento
mori. Den Spannungsbogen, sich über Klezmer, Jazz, Operette und,
ja, Rock erstreckend, dieser Welt aber baut ANGIZIA keineswegs behutsam
auf, sondern mit der Wucht eines ausbrechenden Vulkans. Musikalisch wie
dramaturgisch gehen sie dabei grandios vor: forsch, fordernd, widerborstig,
makaber, mannigfaltig. Sie schaffen dadurch ein beinahe unwirkliches Artefakt,
wundervoll gestaltet, mit viel Herzblut umgesetzt. Kurzum: Eindrucksvolle
Musik, die in selbstverliebter Borniertheit oft nicht wahrgenommen werden
wird.“ (Marcel Tilger, Legacy 2005) Michael Haas beschloss, die
90 aufgenommenen Hörminuten für sein entrisches Friedhofsstück
auf 75 Minuten zu straffen und arbeitete mit dem congenialen Soundengineer
Bernhard Gittenberger über 4 Monate hinweg an einem im Gegensatz
zum „kommerziell pompösen und mit Hall und Echo immerzu größer
machenden Sound der kommerziellen Gothickultur“ an minimalistischen
und intimen Soundsphären, die dem Hörer beim Verzehr dieses
Totenackerstücks eine ureigene Unmittelbar-, ja Leibhaftigkeit vermitteln.
Noch nie war Angizia mehr Theater als hier. Die Pianistin Barbara Rektenwald
interpretiert all die launigen Angizia-Partituren auf einem Steinway-Flügel
a la bonne heure. Der russische Violinist „Original artist“
Aliosha Biz brilliert als schauspielender Geiger mit unglaublicher Interpretation.
Bernhard Seibt mimt den Friedhofklarinettisten Redondo und der polnische
Akkordeonvirtuose Krzysztof Dobrek betört den Hörer dieses Albums
mit meisterhaftem, ja unikalem Tastenspiel. Der Rest des Kollektivs liest
sich wie ein „Best of Angizia“: Alex Dostal (Schlagzeug &
Percussion), Harald Hauser (Bass), Emmerich Haimer (A-/E-Gitarre), Roland
Bentz (E-Violine), Giuseppe Gravino (Cello), Martin Stanzel (Tuba), Josef
Niederhammer (Kontrabass), Gabriele Böck (Illustrationen).
Im Dezember 2004 schien ein idealistisches und edelmütiges Mammutprojekt
vor dem endgültigen Abschluss zu stehen – Angizia veröffentlichte
das eigenwilligste, fanatischste und dickköpfigste Werk seiner zehnjährigen
Ära stur und kompromisslos auf dem eigenen Label „Medium Theater“
und betonte den speziellen Charakter dieses grotesken Totenackerstücks
mit einer streng limitierten Auflage von nur 1000 CDs. „Es wird
dem Gros der Hörer nicht schwer fallen, ANGIZIA als völlig verrücktes
Kollektiv abzutun - sollte es ihnen überhaupt vergönnt werden,
deren neues Werk zu Gehör zu bekommen. ANGIZIA selbst nähren
weder das eine noch andere ganz bewusst; sie sind einerseits lange Zeit
vergebens mit ihrem mindestens ebenso avantgardistischen letzten Tonträger
"39 Jahre für den Leierkastenmann" bei potentiellen Verlagen
vorstellig geworden und haben auf der anderen Seite stets nur gesucht,
ihre innersten Bewegungen und Ansichten abzubilden. Wem die denn zu schräg
und außerordentlich tönen, nun gut ... Michael Haas, der "Ein
Toter fährt gern Ringelspiel" mit gleichermaßen verstörenden
wie betörenden Zeile ("...Ein Toter will leibhaftig sein und
gibt partout nicht Ruhe...") einleitet, schert das - im Gegensatz
zu jenen, die zwar betonen, sich niemandem anzubiedern, schließlich
aber doch mit eingezogenen Schwänzen unter die Fittiche jeder x-beliebigen
Plattenfirma zurückgekrochen kommen - tatsächlich nicht mehr.“
(Marcel Tilger, Legacy 2005) Angizia funktioniert ohne Kompromisse ohnehin
am allerbesten – und keine Formation der nächsten Jahre wird
nur annähernd ähnlich klingen wie diese österreichische
Kapelle mit ihren ungenierten und entfesselten gesanglichen Protagonisten
und dieser einmaligen Koinzidenz aus schrägem Kaputtsound, Klezmer,
Zirkusmusik, Rock, avantgardistischem Musiktheater und Hörspiel.
So entscheiden Sie selbst, werter Musikkonsument, ob Sie das Schaffen
einer derart unkonventionellen Formation genießen wollen oder sich
fair und aufrecht vom Nonkonformismus dieser so schiefen Theaterkapelle
distanzieren, um v. a. einzusehen, dass Angizia ungeachtet widriger Trends
und evidenter Richtlinien der Kommerzmusik immerzu stur und trotzköpfig
einen selbst bestimmten Weg gegangen ist und diesen unter Umständen
auch noch weiter gehen wird. „Wenn sie verrückt genug sind,
so folgen sie doch jen’ kühnem Einbaum, der im Sog des Meeres
rieselnd, all jenen schnöden Inselchen trotzt, die uns mit doofen
Sprüchen schmackhaft werden sollen. Wenn Sie sich beeilen, holen
sie ihn bestimmt ein.“